Was bedeutet: Allradwagen der Vergebung?
Vor ein paar Monaten haben wir in unserem Blogartikel über Vergebung länger über die Besonderheiten und Herausforderungen eines Reue- und Vergebungsprozesses in der Mediation geschrieben. Dieser Text richtete sich hauptsächlich an ein Fachpublikum.
Heute wollen wir das Thema Vergebung und Bereuen in den Alltag holen. Denn Situationen, in denen wir etwas bereuen oder verzeihen, erleben wir alle relativ häufig. Nicht immer gelingt der Prozess.
Aus Gründen: Weil wir nicht genug Zeit oder Raum haben, um in der Tiefe miteinander zu sprechen. Weil der/die Andere gar nicht sprechen will. Weil wir just gerade jetzt keine Mediatorin zur Hand haben. Und, und, und…
Gibt es denn etwas, das wir dennoch tun können, ganz für uns selbst? Die gute Nachricht: Ja, gibt es, und zwar den Allradwagen der Vergebung.
Ein sehr praktisches Tool, wie wir eigene Reue- oder Verzeihensprozesse reflektieren und analysieren können, um die Wahrscheinlichkeit des Gelingens zu erhöhen – oder zumindest Klarheit darüber zu bekommen, warum es (noch) nicht klappt.
Die wichtigsten Punkte aus dem Artikel „Wege der Vergebung“ auf einen Blick
Wir werden einzelne Punkte davon im weiteren Verlauf noch einmal aufgreifen, aber wenn Du es ausführlicher wissen willst, dann lies am besten nochmal den gesamten Beitrag.
Warum es im Deutschen zwei Begriffe gibt, ist uns auch nicht klar geworden. Sie werden synonym benutzt, wobei Vergebung oft spirituell konnotiert ist, während Verzeihen als «weltlicher» verstanden wird. Sprachhistorisch bedeuten sie das Aufgeben einer Schuldforderung, das Verzichten auf Rache oder Strafe: „Verzeihen“ hat die gleiche Wurzel wie „verzichten“, und „vergeben“ geht auf mittelhochdeutsch „fragiban“ zurück, was „aufgeben“ bedeutet.
Dabei geht es nicht darum, jemanden von seiner Verantwortung zu befreien, sondern, wie bereits erwähnt, auf Strafe zu verzichten, beziehungsweise die Schuld im Sinne von Schulden, die zu begleichen sind, zu annullieren. Die Tat selbst ist irreversibel und die Verantwortung für sie bleibt bestehen, z. B. in Bezug auf die Verpflichtung zur Reparation oder Prävention. Vergeben wird der Täter:in, in Anerkennung menschlicher Fehlbarkeit und der Tatsache, dass wir alle unsere Gründe für unser Verhalten haben.
Genug der Vorrede, interessant ist ja, wie Sich-Entschuldigen und Vergeben im Alltag ganz praktisch klappen können.
Sagen wir's mal so: Unser Alltag ist manchmal ein ganz schön unebenes Terrain, mit Bergen der Überwindung, Tälern der Trauer, Schuldfallen, Stresswüsten, Sehnsuchts-Seen und vielen weiteren Gefühlslandschaften mehr. Zumal, wenn es zu Konflikten kommt, kann die Fahrt ganz schön holprig werden und man kann auch relativ leicht die Orientierung verlieren. Bei manchen, lange dauernden Konflikten, weiß am Ende niemand mehr, wo es eigentlich los gegangen ist und was unterwegs alles passiert ist. Es ist ein bisschen wie eine Rally. Und wie bei einer solchen ist alles so viel einfacher, wenn man das richtige Werkzeug dabei hat und Leute, die einem auch mal helfen, ein Rad zu wechseln oder dich aus dem Graben ziehen. Bleiben wir in der Metapher: außerdem ist es gut, eine Karte dabei zu haben und ein Ziel, also zu wissen wo man hin will, vielleicht auch Leute, die einem unterwegs den Weg zeigen.
Einen Konflikt zu durchschreiten und zu lösen ist nichts anderes als ein inneres und zwischenmenschliches Paris-Dakar.
Und dafür braucht man einen Allradwagen.
Meistens, wenn auch nicht immer, beinhaltet die Lösung eines Konfliktes Reue und Verzeihung bzw. eine Entschuldigung im Sinne eines Bedauerns und eines Entschuldigen im Sinne einer Bitte um Entschuldigung, also nicht selten in beide Richtungen.
Sagen wir, Hamid ist Hanna auf den Fuß gestiegen und sie hat ihm dafür eine geknallt. Jetzt ist Hamid sauer, weil er eine Ohrfeige erhalten hat, und Hanna hat einen blauen Zeh. Wie es so oft vorkommt, haben beide ziemlich wilde Vorstellungen davon, warum der jeweils andere so gehandelt hat und wenn es keine Unterstützung und Kommunikation gibt, können sich beide ganz schön in ihre „Kopffilme“ reinsteigern, vielleicht erstatten sie sogar gegenseitig Anzeige. Ein wunderbares Rezept zum Unglücklichsein. Aber Hanna und Hamid haben gute Freund:innen, die sie zur Vernunft rufen und dabei unterstützen, ihren Konflikt zu bereinigen. Beide möchten sich beim/bei der anderen entschuldigen und erwarten gleichfalls eine Entschuldigung. Sie haben also ein Entschuldigungs- und Verzeihungsanliegen aneinander, d.h. beide müssen einerseits bereuen und andererseits eine Entschuldigung entgegennehmen, d.h. ggf. verzeihen. Das sind jeweils zwei Schritte, macht zusammen: vier.
Manchmal gibt es nur ein einseitiges Verzeihensanliegen, da fährt man seinen Jeep quasi im Zweiradantrieb.
Das wäre, wenn Hanna einfach nichts getan hätte und Hamid bereut und sich bei Hanna entschuldigt.
Unser Vergebungs-Allradwagen hat hier zur Vollständigkeit vier Räder, alle vier müssen angetrieben werden, damit er rund läuft. Dieses „Rundlaufen“ hängt von der Aufmerksamkeit ab, die man ihm widmet. In unserem Fall gibt es für jeden der vier Punkte jeweils vier Fragen, die sich der- oder diejenige stellen darf, wenn er/sie weiterkommen will (im Leben und/oder der Beziehung zum Gegenüber). Diese vier Fragen sind der Antrieb der vier Räder: 4x4, oder Allradantrieb…
Wenn es zwischen den entsprechenden Rädern nicht synchron läuft, also die Antworten auf die Fragen nicht zu den Wünschen auf der anderen Seite passen, dann knirscht's im Getriebe und unser Verzeihensprozess droht zu scheitern.
Lassen wir die Rally hinter uns und betrachten wir konkret, was es bedeutet, wenn man sich
Die zu jedem Punkt gehörenden Fragen helfen dabei, zu überprüfen, wo Du stehst, wo vielleicht noch etwas fehlt und was es noch braucht, um diesen Schritt zu gehen.
Die Antworten auf diese Fragen sind die Grundlage für ein Konfliktgespräch.
Vielleicht stellst Du fest, dass Du nicht verzeihen willst, weil dir der Beziehungsabbruch eigentlich ganz gelegen kommt. Nehmen wir noch einmal Hanna und Hamid. Hat Hanna wirklich verstanden, warum die Ohrfeige so schlimm war für Hamid? Eine Ohrfeige tut ja nicht sonderlich weh, noch dazu im Vergleich zu ihrem blauen Zeh, der 4 Wochen in keinen Schuh gepasst hat. Aber für Hamid war es ein öffentlicher Gesichtsverlust, was ihn schwer getroffen hat. Erst wenn Hanna das versteht, wird Hamid ihr verzeihen können. Andersherum, kann Hamid bereuen, obwohl er doch nur dem Kinderwagen ausgewichen ist und Hanna gar nicht absichtlich auf den Zeh gestiegen ist? Versteht er, dass er Verantwortung für den Schaden trägt, auch wenn es keine Absicht war? Erst wenn er das anerkennt, wird Hanna sehen können, dass er ihr ja eigentlich nicht weh tun wollte und sich ihrerseits entschuldigen wollen für ihre etwas brüske Antwort. Und nicht zuletzt: Ist es den beiden wichtig, in Frieden auseinanderzugehen bzw. in gutem Kontakt zu bleiben? Je wichtiger die Beziehung, desto höher ist vermutlich auch die Bereitschaft, um Entschuldigung zu bitten bzw. eine solche anzunehmen.
Eingangs sprachen wir davon, dass Vergebung ein Geschenk ist, das man nicht einfordern kann. Und dieses Geschenk geht übrigens hauptsächlich an: Dich selbst!
Vergebung ist ein Akt, den man für sich selbst tut, und von dem man selbst am meisten profitiert, entgegen der landläufig immer noch existierenden Auffassung, Vergebung käme den Tatverantwortlichen zu Gute und müsse von diesen „verdient“ werden. Sie ist eine Befreiung aus der Opferrolle, von der Last des Geschehenen, von der keine Ruhe gebenden Erinnerung. Es ist der Moment, in dem das Erlebte und die dafür verantwortliche Person aufhören, Macht über das eigene Leben zu haben. Betroffene sprechen oft von einem «inneren Frieden», Souveränität und Stärke, die sich durch Vergebung einstellen.
Vergebung ist nicht von der Reue des Anderen abhängig und kann nicht durch diese erzeugt werden: auch wenn jemand noch so sehr bereut, kann vielleicht die andere Seite nicht verzeihen. Andersherum kann man verzeihen, ohne dass die entsprechende Person bereut, ja, ohne dass sie davon weiß und sogar ohne dass sie noch lebt. Vergebung ist einzig und alleine die Entscheidung und der innere Prozess der vergebenden Person, als Geschenk an sich selbst. Das geht so weit, dass in Studien belegt werden konnte, dass Menschen, die verzeihen, länger leben, weniger Herzkrankheiten haben, besser schlafen, weniger chronische Schmerzen haben und insgesamt gesünder sind (1).
(1) Siehe John Braithwaite: Rethinking Forgiveness, 2016; und ders.: Redeeming the F-Word. Oxford Journal of Law and Religion, 2016, 5, 79–93
Wenn das mal kein Geschenk ist! Wobei es natürlich ein doppeltes Geschenk ist, denn auch für die andere Person, unabhängig, ob bereuend oder nicht, ist es ein mächtiges Geschenk, verziehen zu bekommen, und bei manch einem mag der Reueprozess dann erst einsetzen.
Warum ist es aber manchmal so schwer, das eine wie das andere?
Die Motive hinter Reue- und Vergebungsblockaden schauen wir uns jetzt abschließend an. Dieser Punkt doppelt sich mit dem, was wir bereits im Artikel vom März 2024 geschrieben haben.
Wenn Menschen Schwierigkeiten haben, um Verzeihung zu bitten, kann es sein, dass ihnen das Vertrauen fehlt und sie fürchten, dass ihre Offenheit missbraucht wird. Vielleicht würde es aber auch bedeuten, noch mehr an Informationen (über sich) preiszugeben, als die andere Person weiß, und sie fürchten um die Reaktion ihres Gegenübers. Oder sie hatten einen echten Grund (ein wichtiges Bedürfnis), das zu ihrer Handlung geführt hat, und wissen nun nicht, wie sie gleichzeitig zu ihrem Bedürfnis stehen, und ihre Handlung bedauern sollen. Möglicherweise bereuen sie auch das eigene Verhalten gar nicht, weil sie es angemessen oder zumindest nachvollziehbar finden und daher Verständnis erwarten. Es könnte aber auch sein, dass die Hürde in der Beziehung zwischen den beiden liegt, entweder in ihrer allgemeinen Beziehungsgestaltung oder weil die andere Partei Signale sendet, die entmutigend wirken. Nicht zuletzt bedarf es einer gewissen charakterlichen Stärke, einen Fehler zuzugeben und dafür um Verzeihung zu bitten: es kommt zu einer kurzfristigen Machtungleichheit, indem die um Verzeihung bittende Person sich unterordnet. Das wird in manchen Kulturen auch körperlich entsprechend ausgedrückt, indem man auf die Knie fällt, den Kopf senkt oder die Augen niederschlägt.
Auch hier kann es um Vertrauensmangel gehen. Vielleicht glaubt diejenige, die verzeihen soll, nicht an die Aufrichtigkeit der Reue oder befürchtet, dass es wieder passieren wird. Oder der Schmerz steht noch im Vordergrund, weil der andere die Auswirkungen seines Verhaltens noch nicht ganz verstanden hat. Dieser Schmerz kann dann auch dazu führen, dass Rachegelüste überwiegen und man sich wünscht, die andere Person möge genauso leiden. Wenn die Handlung nahezu gar nicht nachvollziehbar bleibt, kann das ebenfalls Vergebung behindern. Und nicht zuletzt ist das Verweigern von Vergebung manchmal ein Hebel, eine Beziehung zu beenden, ohne sich weiter erklären zu müssen. Eine günstige Gelegenheit.
Die meisten Menschen „entschuldigen sich“, wenn ihnen etwas leid tut, das sie getan haben – was technisch ziemlich unmöglich ist: als könne man sich selbst ent-schuldigen. Daher auch der Tipp beim Allradwagen, um Entschuldigung zu bitten und nicht sich zu entschuldigen. Eigentlich gibt es in einer „Entschuldigung“ zwei Komponenten: den Ausdruck des Bedauerns – „es tut mir leid, ich bedauere, dass…“ – und dann die Bitte um Verzeihung. Beides wird häufig in einem Kurzen „Sorry“ zusammengezogen. Nicht immer ist das angemessen und kommt gut bei der anderen Person an. Wenn dann noch ein „aber“ hinterherkommt, welches eine Rechtfertigung einleitet, ist es nicht verwunderlich, wenn die Entschuldigung vom anderen nicht (an-)erkannt wird. Sagen wir, Hamid sagt zu Hanna: „Sorry dass ich Dir auf den Fuß gestiegen bin, aber ich musste dem Kinderwagen ausweichen.“ Da lässt sich kaum erkennen, dass er Hannas Schmerz wirklich verstanden hat.
Hamids Satz könnte lauten: „Es tut mir leid, dass ich Dir auf den Fuß getreten bin und Deinen Zeh zerquetscht habe. Ich bitte Dich um Entschuldigung. Möchtest Du wissen, wie es dazu kam?“
Es scheint übrigens sprachliche Verwirrung zu herrschen, wenn gemeinhin „es tut mir leid“ zu sagen als „sich entschuldigen“ bezeichnet wird, während gleichzeitig um Entschuldigung bitten und um Verzeihung bitten auch synonym verwendet werden.
In der Mediation verwenden wir oft einige Zeit darauf, diese ganzen Nuancen zu entwirren und herauszufiltern, was jede:r braucht, um verzeihen und bereuen zu können. Nur wenn das geklappt hat, ist es sinnvoll, Vereinbarungen für die Zukunft zu treffen, weil wir sonst bei der nächsten Gelegenheit uns wieder in den noch immer ungeklärten Emotionen verheddern.
Wenn das nicht reicht: Allradantrieb zuschalten und im 4x4-Modus weiterfahren…
Nun haben wir viel geredet und würden gerne in einen Dialog mit dir gehen und freuen uns, wenn du uns Antworten auf einige unserer Fragen in die Kommentare schreibst. Zum Beispiel interessiert uns:
Wir sind gespannt und freuen uns von dir zu lesen...
RheinMediation - Kultur der Verständigung
Jacqueline
Rüdiger Hausmann
sehr schöne Metapher, 'wieder gemeinsam auf die Strasse kommen'. Und ja, hinter jedem 'du verstehst mich nicht' steht ein 'ich verstehe dich nicht', super, wenn ein Dialog darüber gelingt.
Holger
Danke Rüdiger.
Rüdiger Hausmann
Rüdiger Hausmann
sich selbst zu verziehen ist vermutlich für manche Menschen noch schwieriger, je nach Persönlichkeit. Die Großzügigkeit, die jedes Angebot des Verzeihens beinhaltet, wirkt als Beziehungsrealität; das Geschenk besteht ja darin, dass ich nicht die ganze innere Arbeit alleine mache, wenn ich meinem Gegenüber und nicht mir selbst verzeihe.
Freut mich sehr, dass dich der Artikel inspiriert!
Paula Westphal
Danke für den Allradwagen, ich kann ihn gerade gut gebrauchen.
VG Paula
Was denkst du?